Authentizität hinterfragt: Warum der Satz „Sei authentisch!“ uns oft in die Irre führt
„Sei authentisch!‘ – ein Satz, der motivierend klingt, aber mehr Druck erzeugen kann, als wir denken. Doch was meinen wir eigentlich, wenn wir von Authentizität sprechen? Und ist das Ideal, jederzeit unser ‚wahres Selbst‘ zu zeigen, überhaupt realistisch?“
Was bedeutet Authentizität wirklich?
Der Begriff „authentisch“ stammt vom griechischen Wort authentikós (αυθεντικός) ab und bedeutet ursprünglich „echt“, „Urheber“ oder „Ausführer“. Früher bezog er sich vor allem auf die Echtheit von Schriften, die tatsächlich vom angegebenen Autor stammten. Heute umfasst Authentizität weit mehr: Glaubwürdigkeit, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und die Treue zu sich selbst.
Authentisch zu sein heißt, sich so zu zeigen und zu handeln, wie man wirklich ist – mit den eigenen Gedanken, Gefühlen, Bedürfnissen und Werten. Dafür braucht es Selbstkenntnis und das Vertrauen in die eigene Innenwelt. Authentizität bedeutet auch, dieses innere Erleben in Beziehungen offen ausdrücken zu können. Gleichzeitig ist es möglich, in unterschiedlichen sozialen Rollen verschieden aufzutreten, ohne die eigene innere Wahrheit zu verlieren. Wer wenig Zugang zu sich selbst hat, dem fällt es schwer, authentisch zu handeln. Wenn du herausfinden möchtest, wie verbunden du mir dir und anderen bist, lies gern den Artikel “Wie verbunden bist du?”
Authentizität zwischen innerem Selbst und gesellschaftlichen Erwartungen
Authentizität ist etwas, das wir Menschen einander zuschreiben oder das wir an bestimmten Formen der Selbstdarstellung festmachen. Doch schon in der klassischen Philosophie ist Authentizität weit mehr als ein spontanes „Ich bin halt so“. Für Rousseau ist die Entfaltung des moralischen Bewusstseins nur möglich, wenn ein Mensch in einem echten, inneren Selbstverhältnis steht: einer Treue zu seiner „inneren Natur“. Dieses aufrichtige Verhältnis zu sich selbst entsteht nicht durch moralische Belehrung von außen, sondern durch das unmittelbare Gefühl der eigenen Existenz, in dem das Gewissen bereits mitschwingt. In dieser Perspektive wird das authentische Selbst sogar zur Grundvoraussetzung für Freiheit – sowohl in ihrer positiven als auch in ihrer negativen Form.
Auch Charles Taylor knüpft an diese Tradition an, indem er zeigt, dass Authentizität eng verbunden ist mit Selbstverwirklichung, Selbsterfüllung und Selbstbestimmung. Sich selbst treu zu bleiben bedeutet für ihn, der eigenen Originalität treu zu bleiben: jenem Teil des Menschen, den nur er selbst artikulieren und entdecken kann. In diesem Prozess definiert sich der Mensch zugleich selbst. Das Ideal der Authentizität verleiht der modernen Kultur der Selbstverwirklichung eine moralische Dimension: Es vermittelt das Gefühl, dass das eigene Leben eine besondere Aufgabe, eine eigene Erfüllung und einen spezifischen Sinn besitzt. Authentizität wird damit unauflöslich verknüpft mit Identität, Autonomie und der Frage, wie stimmig und sinnvoll ein Leben sich anfühlt.
Der Satz „Sei authentisch!“ – ein paradoxes Ideal
Doch gerade im Zeitalter des neuen Kapitalismus, der „New Economy“ und des „flexiblen Menschen“ geraten diese Ideale unter Druck. In einer Welt, die permanente Anpassung, Optimierung und Wandel verlangt, wird die Suche nach einem „authentischen Selbst“ zunehmend kompliziert. Nicht zufällig lässt sich die Aufforderung „Sei authentisch!“ als performativer Widerspruch lesen: Wie kann ausgerechnet etwas, das zutiefst aus mir selbst kommen soll, von außen gefordert werden?
Authentisch zu leben ist nicht nur eine persönliche Herausforderung, sondern auch eine gesellschaftliche. In Zeiten von Social Media, Vergleichskultur und permanentem Leistungsdruck stehen Menschen ständig unter Beobachtung und unter dem Druck, bestimmten Idealen zu entsprechen. Die ständige Selbstinszenierung, der Wunsch nach Anerkennung und die Angst vor Ablehnung erschweren es, das eigene wahre Selbst frei zu zeigen. Hinzu kommt die Geschwindigkeit und Flexibilität des modernen Lebens: Jobs, Beziehungen und Rollen wechseln häufiger, und Anpassung wird oft zur Überlebensstrategie. All dies macht es heute besonders schwer, die Balance zwischen innerer Treue zu sich selbst und den Erwartungen der Umwelt zu halten.
Aber liegt darin nicht auch evtl. die Schönheit Mensch zu sein? Menschen sind komplex. Wir bestehen aus Vielschichtigkeiten, Ambivalenzen, inneren Spannungen, Schutzmechanismen, widersprüchlichen Facetten und verschiedenen Anteilen. Eine vollständig durchgehaltene, „reine“ Authentizität erscheint unter diesen Bedingungen kaum möglich. Vielleicht braucht der Authentizitätsbegriff selbst eine Aktualisierung und zwar eine Definition, die unsere psychische Realität, unsere soziale Eingebundenheit und die Ambiguitäten unseres Seins mitdenkt. Nur dann kann Authentizität mehr sein als ein wohlklingendes Ideal: nämlich ein lebbarer, realitätsnaher Zugang zu dem, was es heute bedeutet, man selbst zu sein.
Authentizität als dynamischer Prozess statt perfekter Zustand
Authentizität ist nicht nur eine Frage dessen, wie jemand von außen wirkt, sondern vor allem eine Frage des inneren Selbstverhältnisses. Wahrnehmung ist immer gefiltert – durch soziale Normen, persönliche Erfahrungen, Erwartungen und die kognitiven Muster, die wir bilden. Das bedeutet, dass wir selten objektiv beurteilen können, ob jemand „authentisch“ ist.
Interessant ist: Auch Strategien, sich zu verstellen oder bestimmte Wesensanteile nur in ausgewählten Situationen zu zeigen, können Ausdruck von Authentizität sein – wenn diese Entscheidungen bewusst aus dem eigenen Selbst heraus getroffen werden. In diesem Sinne ist Authentizität weniger ein statischer Zustand als ein dynamischer Prozess, bei dem die Person zwischen verschiedenen Facetten ihres Selbst wählt, reflektiert und priorisiert. Die Reaktion der Umwelt – also ob jemand als „unauthentisch“ wahrgenommen wird – steht nicht im direkten Widerspruch zur Authentizität der Person selbst.
Man könnte also sagen: Authentizität liegt nicht nur im unmittelbaren, unverstellten Ausdruck des Selbst, sondern auch in der Freiheit, das Selbst bewusst zu gestalten und zu zeigen, selbst wenn dies Anpassung oder taktische Selbstpräsentation einschließt.
Die Aufforderung zu Authentizität sollte daher weniger als Druck verstanden werden, perfekt „echt“ zu sein, sondern als Einladung, die eigene Vielschichtigkeit anzuerkennen und Wege zu finden, sich selbst treu zu bleiben und das auf die Weise, die für das eigene Leben möglich und sinnvoll ist.
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Quellen
Saupe, A. & Clio-online e.V. (2012). Authentizität. In Docupedia-Zeitgeschichte. https://doi.org/10.14765/zzf.dok.2.263.v2